Ein Zeichen für Entscheidungsfreiheit setzen


Etwas spät aber doch: Im Juni dieses Jahres setzten meine Schwester, meine Freundinnen und ich ein Zeichen für die Entscheidungsfreiheit. Die Willensfreiheit scheint so selbstverständlich und tief in unsere westliche Gesellschaft verankert, dass ein gesetzlich tolerierter und gesellschaftlich praktizierter Verstoß umso mehr provozieren sollte. Doch in diesem besonderen Fall trifft man oft Unverständnis.
Alles begann für mich in einer Vorlesung als Anna Babka den Gender-perspektivierten Zugang zur Literaturtheorie vorstellte. Auch wenn ich hier Neuland betrat, war jeder Schritt erschütternder. Bei der finalen Diskussion konnte ich meinen Schock kaum noch verbergen. Denn gegen mein naives Bild waren selbst die StudentInnen noch weit entfernt davon feministische Theorien und sexuelle Toleranz zu akzeptieren oder gar in deren Selbst/Fremdbild zu integrieren.
Neben vielen brisanten Themen berührte mich vor allem die rechtliche Situation der Intersexuellen. Kurze Revision der gegenwärtigen Lage: Bis zu 1,7 Prozent aller Neugeborenen werden zweigeschlechtlich geboren und bei Meldungen wie im Film Plastic Planet, dass die Zwitterrate im Tierreich wegen der Umweltverschmutzung steige, scheint die Tendenz meiner Einsicht nach zu steigen. Auf Grund des gesetzlichen Druckes einer eindeutigen Geschlechtszuweisung nehmen Ärzte — nach Zustimmung der Eltern — eine „geschlechtszuweisende Operation“ gefolgt von einer Hormonbehandlung vor. Die Resultate sind schwerwiegende psychische, soziale und körperliche Probleme. In ihrer Dissertation beschäftigte sich die Juristin Angela Kolbe mit dieser Ungerechtigkeit und konstatiert, die Eingriffe seien gemäß Grundgesetz rechtswidrig, bevormunden die Betroffenen und fügen ihnen unvertretbare und irreversible Schäden zu. [Vgl: Angela Kolbe: Intersexualität, Zweigeschlechtlichkeit und Verfassungsrecht: Eine interdisziplinäre Untersuchung. Nomos: 2010]
Da durch diese Operation auch in die Fortpflanzungsfähigkeit dieser Menschen eingegriffen wird, fällt diese Zwangssterilisation in den Bereich der Eugenik, die historisch gesehen eigentlich bereits aus unserer Gesellschaft verbannt sein sollte. Dennoch greifen nach wie vor Gesetz, Ärzte und in letzter Konsequenz die Eltern in eine menschenrechtlich gesicherte Freiheit ein. Und dies in totaler Ignoranz oder Akzeptanz der Gesellschaft!
Das Tragische ist, dass die bürokratisch-legale Schikane kein drittes/neutrales Geschlecht akzeptiert und so Eltern kaum eine Wahl lässt. Wenn auch tolerante, besorgte Eltern sich gegen die Operation entscheiden würden, wäre diese unvermeidbar. Denn von Geburtsurkunde bis Pass werden keine Abweichungen von der binären Geschlechteraufteilung geduldet. Sie müssten schon nach San Francisco auswandern — laut Anna Babka das weltweit einzige Gesetz, das ein drittes Geschlecht aufführt — und das am besten schon lange vor der Geburt.
Schockiert von diesen unmenschlichen Bedingungen saß ich in der Vorlesung und etliche meiner KollegInnen echauffierten sich über den Appell der Vortragenden um mehr Toleranz und Akzeptanz. Man fühle sich wohl in der klaren Zweiteilung und wolle diese Sicherheit nicht gefährden. Der Rest blieb stumm, ob aus fehlendem Mut oder wie in meinem Fall aus tiefem Unglauben und Schock. So ist sie, die zukünftige akademische Elite unserer Gesellschaft!!
Nachdem mein Schock einem konstruktiven Aktivismus wich, leistete ich einige Wochen in meinem Umfeld Aufklärungsarbeit und führte viele emotionsgeladene Gespräche. Als im Juni die jährliche Regenbogenparade Wiens stattfand, hatte ich bereits eine Gruppe von Gleichgesinnten um mich geschart. Mit Slogans der Seite zwischengeschlecht.org gerüstet, setzten wir dort ein Zeichen für Entscheidungsfreiheit und Menschlichkeit.

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