„Neues Leben – neue Frisur“ Diese Phrase hört man als Friseurin oder Friseur ziemlich häufig. Radikale Veränderungen im Leben werden oft – vor allem bei Frauen, deren Gender-Tradition (siehe Teil 1) mehr Freiheiten erlaubt – über die Haare repräsentiert. Die Gründe dafür sehe ich in zwei sich überschneidende Symbolkreisen: Erinnerung und Identität.
Anatomisch gesehen können die Haare, als physische Manifestation unseres Lebens oder einfacher ausgedrückt als körperliches Tagebuch gesehen werden. Die Haare wachsen mit uns für einige Zeit (bis zu einer Dekade, wenn sie nicht geschnitten würden) mit und Entbehrungssträhnen, sowie Stress, Ernährung, Medikamentekonsum und hormonelle Schwankungen, wirken sich direkt auf die Haarqualität aus. Auch wenn nicht so sichtbar, wie zum Beispiel auf unserer Haut verändern sich auch unsere Haare über die Zeit und manchmal spiegeln sie selbst die Tagesstimmungen wider – bad-hair-day. Vor einiger Zeit erzählte mir eine Bekannte schmunzelnd, dass jede Freundin ihr ein graues Haar kostete.
In Verbindung mit Alter hat das Haar eine besondere Rolle in einer historischen Begebenheit:
Another strange addition would be the so called „lock of youth“. A child when first shaven, would be allowed to retain just one lock of hair. The age old desire to continue to look youthful led to that lock often being retained, hanging down beneath the wig. [Bryer 2003, S. 19]
Diese Locke war nicht nur kosmetisches Zeichen der Jugend, sondern enthielt auch die Erinnerung an diese.
Der große Unterschied zu anderen Körpertagebüchern, wie unser Gesicht, ist dass wir sie jederzeit ablegen können. Daher wohl auch das Ritual die Haare abzuschneiden, um sich der Vergangenheit zu entledigen.
Eine weitere Geste der Erinnerung ist die Locke als Souvenir: „
as a personal memento only hair has that magical quality of being a pleasant and tangibly evocative reminder of its original owner“ [Bryer 2003, S. 16] Dem möchte ich hinzufügen, dass Haare besonders beständig sind und sich lange aufbewahren lassen.
Ein sehr schöne Verbindung von Erinnerung und Haare enthält der angebliche Glaube von amerikanischen Stämmen:
Sie kamen nach Amerika über die Beringstraße, durch Kanada vor Hunderten von Jahren, aber sie schützen ihre Sitten, Tradition und sehr alten Glauben immer noch. Für sie hat das Haar eine tiefe Bedeutung: sie glaubten das die Gedanken mit dem Haar ausbrechen, die neuen Gedanken sind dem Schädel näher, und die alten sind am Ende der längsten Haare. Je länger das Haar, desto mehr Gedanken.Mythologie des Haares
Die bereits angesprochene intensiven Emotionen beim Verlust der Haare ist zum Teil sicher auch im Verlust der Vergangenheit, sowie auch der Identität zu sehen, die ich nun näher betrachten möchte.
Nicht nur über DNA-Analysen wird unsere Identität vor allem über das Haar identifiziert. Auch über Frisuren unterstreichen wir unsere Identität, oder vertuschen wir sie. So wechselt auch Vivianne ihre Rolle von der Prostituierten zur „integrierten“ Frau (vom blonden Sexspielzeug zur anspruchsvoll-verführerischen Rothaarigen) über das Ablegen ihrer Perücke in Pretty Woman.
Ein besonders emotionales Beispiel aus dem Korpus von narrativen Identitätswechsel symbolisiert durch radikale Haarveränderung ist das Beispiel von Fantine im Musical Les Miserables.
In einem Interview äußerte sich Anne Hathaway dazu wie folgt:
“I realised I couldn’t take it back […] It had the effect of changing my identity. I was reduced to a mental patient level of crying… I was inconsolable.” [mirror.co.uk]
Eine herausragende Bedeutung der Identitätsfestellung haben Haare in magischen Ritualen aller Kulturen, von Voodoo bis zu westlicher Zauberei. Klassische Liebeszauber oder Verwünschungszauber werden oft durch ein Haar an eine bestimmte Person gebunden:
Heutzutage halten jedoch viele Fachleute Mesopotamien für eine der wichtigsten Kulturen als Hauptquelle für Bindungsmagie, in der Figuren verwendet werden. Eine übliche magische Praxis war es dort, Figuren zu verbrennen oder einzuschmelzen. Die Figuren waren oftmals aus Lehm, Zedernholz, Talg oder Wachs hergestellt, und sie enthielten häufig Dinge wie Haarsträhnen, Gewandfetzen oder Speichel des Opfers. Die Figuren wurden an Orten, wo es gefährliche Dämonen gab, zurückgelassen, verbrannt, zertrampelt oder in Wasser aufgelöst. Um sich vor Zauber zu schützen, wurden in Mesopotamien magische Amulette gebraucht. Allgemeiner Brauch war es auch, Liebeszauber zu verwenden. wiki Magie Griechenland Wikipedia: Magie
Skinwalkers have been known to find traces of their victim’s hair, wrap it around a pot shard, and place it into a tarantula hole. Wikipedia: Skinwalker
Dies führte zu Angst und, um wieder ein Beispiel aus der Antike zu nennen, Frauen und Männer des antiken Ägyptens rasierten sich die Köpfe kahl und verbrannten die Haare, nicht nur aus klimatischen Gründen, sondern vornehmlich um Zauber gegen sie vorzubeugen – ganz nach dem Motto: „If hair could fall into evil hands, better by for that it should not be allowed to grow in the first place“ [Bryer 2003, S. 17]
Synnott fasst dies sehr treffend zusammen:
Hair not only symbolizes the self but, in a very real sense, it is the self since it grows from and is part of the physical human body; furthermore, it is ‚immortal‘ since it survives death. It is this personal and biological origin of hair which gives it such richness and power. [Synnott 1987, S. 404]
Falls du noch nicht an meiner Umfrage teilgenommen hast: Ganz anonym und kurz – ein paar Fragen über deinen Style und deine Einstellung zu Haaren. Ich freue mich über zahlreiche TeilnehmerInnen, also gerne auch teilen und weitersagen.
Bryer, R. The History of Hair: Fashion and Fantasy Down the Ages. Philip Wilson Publishers. 2003.
Marshall, Garry. Pretty Woman. 1987
Synnott, A. Shame und Glory: a Sociology of Hair. The British Journal of Sociology, 38.3 S. 381-413, 1987.
Mythologie des Haares. http://thehistoryofthehairsworld.com/