BourdieuBot. Soziales Kapital & Social Media

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Einer meiner treuesten Retweeter ist BourdieuBot. Es selbst ist schweigsam, aber es teilt eifrig Tweets. Es hat zahlreiche Follower. Was würde Pierre Bourdieu zu seinem Roboter-Alterego sagen? “Merci” vermutlich, da es die Bedeutung des Soziologen bei Twitter ganz selbstlos steigert. Vor fast 40 Jahren verfasste Bourdieu einen Aufsatz über Bekanntheit, Ruhm und Beziehungen, die er darin als soziales Kapital bezeichnete (Hier geht’s zur Zusammenfassung). Wie passt BourdieuBot in das Kapitalmodell seines Namensgebers? Ich hole dafür noch etwas aus. Denn ich vermute, nicht nur die nichtmenschlichen Akteure fordern das Modell heraus.

Sozialkapital ist die Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens oder Anerkennens verbunden sind; oder, anders ausgedrückt, es handelt sich dabei um Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen.

S. 190-1

Heute sind auch Social Media Plattformen ein Ort oder in Bourdieus Worten ein Kampfschauplatz, wo wir soziales Kapital generieren. Und in Bezug dazu stelle ich zwei weitere Fragen: Was ist neu? Was gab es vorher schon?

Auch auf Twitter oder Instagram pflegen wir Beziehungen und auf Facebook gibt es sogar noch Gruppen, denen man mit oder ohne Aufnahmeritual beitreten kann. Doch gibt es einen wesentlichen Unterschied: Wie die Namen der ersten Plattformen MySpace oder Youtube andeuten, bildet jede/r NutzerIn vor allem ihre/seine eigene „Gruppe“, deren Mittelpunkt er/sie selbst ist. Durch meine FreundInnen, Follower, AbonnentInnen schaffe ich mir meine Gruppe, meine community, mein Netzwerk. Es scheint ein demokratischer „Individualismus“ zu Grunde zu liegen, der „veraltete“ Institutionen, wie Vereine oder Clubs, überflüssig mache.

Die community als soziales Kapital entwickelte sich in ihrer heutigen Form jedoch mit den Plattformen. Es mussten erst die Bedingungen geschaffen werden, dass sie als Kapital wirksam wurde, und dies war ein historischer Prozess der Aushandlung. Zu Beginn übertrugen wir unsere Beziehungen in die Social Media, dadurch wurde unser soziales Kapital sichtbar und messbar. So ließ sich die Reichweite einfacher in ökonomisches Kapital umwandeln – wenn auch verschleiert über Affiliate-Links, Werbe- und Sponsoring-Verträge, bessere Jobmöglichkeiten usw. Dadurch wurde es wichtig, dass die bestehende community auch erweitert werden kann. Neben der Selbstdarstellung durch Inhalte wurden Interaktionen und Kommunikation relevant. Gleichzeitig kamen Strategien zur Steigerung der Reichweite – und letztlich Betrugsformen – auf. Eine Ökonomisierung des sozialen Kapitals setzte ein, und auch der Staat begann regulierend einzugreifen, in dem er zum Beispiel die Transparenz der Werbung forderte. Immer mehr AkteurInnen begannen den Kampf um soziales Kapital und Aufmerksamkeit.

Ein Modell des (digitalen) sozialen Kapitals in den Social Media wurde geschaffen, aber ist es so viel anders als das von Bourdieu? Wir haben bereits festgestellt, dass wir in Social Media unsere community bilden. Sie ist die Gesamtheit unserer Beziehungen auf einer oder mehreren Plattformen – ignorieren wir mal die Komplexität, die sich aus mehreren Plattformen ergibt – und das für alle sichtbar als eine Zahl im Profil. Davor war der volle Umfang des sozialen Kapitals (wenn überhaupt) nur seiner/m InhaberIn bewusst. Familienname oder Mitgliedschaften schufen Transparenz und prekäre Garantien darüber. „Institutionalisierungsakte, die die davon Betroffenen gleichzeitig prägen und über das Vorliegen eines Sozialkapitalverhältnisses informieren“, waren notwendig. Wieviel Namen und Institutionen in der digitalen Kultur zählen, zeigen Avatare mit Pseudonymen und zahlreiche Publikationen, in denen der Fall der Institutionen proklamiert wurden.

Dennoch räume ich ein, dass niemand in Social Media ohne „analogen“ Kapital einsteigt und es schon einen enormen Vorteil bringt, die Tochter von Heidi Klum zu sein. Hier beziehe ich mich nicht auf Bourdieus Annahme eines Beziehungstalents (vgl. S. 193), dem ich äußerst kritisch gegenüberstehe. Denn die Fähigkeit, Beziehungen aufzubauen, zu stärken und zu nutzen, ist nicht von der Klassenzugehörigkeit abhängig oder gar ein Distinktionsmerkmal der höheren Klassen. Es ist natürlich einfacher in seinem eigenen Milieu durch den homogenen Habitus ein Netzwerk zu übernehmen oder aufzubauen, aber das gilt für alle Klassen, Milieus oder Gemeinschaften. Einziges Argument für einen Vorteil der höheren Klassen, der nichts mit Talent zu tun hat, ist der Besitz von anderen Kapitalformen, da diese in soziales Kapital umgewandelt werden können. Ich beziehe mich auf den (klassenunabhängigen) Trumpf der Bekanntheit, der über einen Familiennamen übergeben werden kann:

Deshalb sind die Träger eines berühmten Familiennamens, der auf ein ererbtes Sozialkapital deutet, in der Lage, alle ihre Gelegenheitsbekanntschaften in dauernde Beziehungen umzuwandeln: Wegen ihres Sozialkapitals sind sie besonders gefragt. Weil sie bekannt sind, lohnt es sich, sie zu kennen. Sie haben es nicht nötig, sich allen ihren „Bekannten“ selbst bekanntzumachen, denn es gibt mehr Leute, denn sie bekannt sind, als sie selber kennen. Wenn sie überhaupt einmal Beziehungsarbeit leisten, so ist der Ertrag deshalb sehr hoch.

S. 193

Bourdieu ökonomisiert mit seinem Kapitalkonzept das Sozialleben, wodurch Beziehungen letztlich nicht uneigennützig sind, sondern immer auch in die dominante Kapitalform, also Geld und Eigentum, umzuwandeln sind. So schöpfen wir auch aus unserer community ökonomischen oder kulturellen Profit, wobei letzterer wiederum monetarisiert werden kann. Auch wenn der Soziologe von der Umwandlung in andere Kapitalformen schrieb, ist es vielmehr eine Art “Multiplikatoreffekt auf das tatsächlich verfügbare Kapital” (S. 191). Denn das bestehende Netzwerk bleibt bestehen, auch wenn wir materielle „Gefälligkeiten“, Wissen oder andere Vorteile aus ihnen beziehen.

Die Verschleierung der Monetarisierung, die Bourdieu beim sozialen Kapital erkennt, findet auch in Social Media statt. Affiliate-Links, Sponsoring oder einfach nur die Machtposition in einem Markt oder Feld. Facebook führte sogar die Funktion ein, seine Freunde zu verbergen. Doch eigentlich liegt die Stärke der community als soziales Kapital gerade in ihrer Transparenz. Denn jede/r kann jederzeit einsehen, dass jemand mit 600.000 Follower bedeutend ist.

Was man jedoch nicht sehen kann, ist die Qualität der community, und dies wird auch zunehmend wichtiger für die Kapitalumwandlung. Etwas salopp beschrieben, wie kann ich Wissen aus einer community holen, die dümmer ist als ich. Dies betrifft natürlich auch das ökonomische, bei welchen Zielgruppenfokus und conversionrate die Reichweite ergänzen. Bei der Steigerung des sozialen Kapitals, die zuvor über Renommee oder „Kreditwürdigkeit“ einer Gruppe gelöst wurde, ist dies ab einer gewissen Anzahl von Abonnenten schwieriger. Hinzu kommt, dass eine community sich aus Offline- und Online-Beziehungen, aber auch Nicht-Beziehungen (ohne Interaktion) und sogar Bots zusammensetzen kann. So wundert es auch nicht, dass Clubhouse mit seiner Exklusivität der Gruppengründung und Teilnahme hier ansetzt.

Bei Bourdieu wird die Homogenität von Gruppen über autoritäre Initiierung und Exklusion eines Delegierten und institutionalisierte Garantien (vgl. S. 192-4) hergestellt, und auch ich besitze diese Autorität in meiner community. Doch meist vereinheitlicht sich die community durch den gemeinsamen Habitus. Ich teile mit meinen Follower Interessen, Geschmack, Sprache usw. So entsteht die einheitliche bubble. Wie auch in der physischen Sozialwelt kann ich bewusst außerhalb dieser Beziehungen aufbauen. Das passiert aber meist auf LinkedIn oder Xing und hier ist der Schleier sehr dünn, denn der ökonomische Nutzen ist für beide klar.

Auch die Inklusion und Exklusion funktioniert in Social Media anders als beim PEN-Club. Während bei Facebook noch eine Freundschaftsanfrage kommt und unsere Interaktion gefordert wird, erscheint bei Twitter nur noch eine Benachrichtigung. Die Inklusion entzieht sich somit unserer Kontrolle. Außerdem wirken sich die Verfehlungen eines einzelnen Followers nur selten auf die gesamte community aus, daher muss der Ausschluss auch nicht so öffentlich passieren. Entfolgen ist ein Klick, über den der/diejenige auf etlichen Plattformen nicht einmal informiert wird.

Dennoch ist die community wertvoll und wir investieren in sie, genauso wie wir sie nutzen. Bourdieu konstatierte: „Kapital ist akkumulierte Arbeit“ (S. 183) oder auch Zeit. Die Investition bei sozialen Kapital ist der Austausch:

Für die Reproduktion von Sozialkapital ist eine unaufhörliche Beziehungsarbeit in Form von ständigen Austauschakten erforderlich, durch die sich die gegenseitige Anerkennung immer wieder neu bestätigt. Bei der Beziehungsarbeit wird Zeit und Geld und damit, direkt oder indirekt, auch ökonomisches Kapital verausgabt.

S. 193

Wurden bei Bourdieu noch Worte, Geschenke und Frauen (kein Scherz!) ausgetauscht, sind materielle „Geschenke“ zum Beispiel bei Gewinnspielen zwar wirkungsvoll, aber auch nur im kommerziellen Rahmen. In Social Media findet vielmehr ein Austausch von Inhalten (selten und nur indirekt verbunden mit ökonomischen oder symbolischen Profit) und vor allem Anerkennung statt. Letztere ist standardisiert in Interaktionen und kann sich auf die Person oder ihre Inhalte beziehen. Sie sind immer Kapital schaffend, negativ ist einzig die Nichtbeachtung. Selbst ein Troll schafft Aufmerksamkeit und somit soziales Kapital für beide Seiten.

Beim Austausch spielt auch der Besitz des sozialen Kapitals des Wertschätzenden wieder eine wesentliche Rolle. Die Anerkennung kann das Netzwerk mit neuen Beziehungen erweitern und so wird soziales Kapital über den Austausch übertragen. Dieses System funktioniert so gut, da jede/r an einer großen community interessiert ist und Exklusion, die auch eine gewisse Arbeit ist, kaum statt findet. Regulierend wirken hier die Algorithmen, die unsere Aufmerksamkeit organisieren, und unser Habitus, der zwischen Homogenität und Nutzen abwägt.

Was hat sich also durch Social Media geändert und was ist geblieben? Die Funktion des sozialen Kapitals als Ausdruck von Macht und Reichtum ist geblieben, und auch ihre Verschleierung durch soziale, emotionale und uneigennützige Motive. Selbst die neue, standardisierte Transparenz verschob den Schleier nur in Richtung Qualität der community. Die Autorität der Delegation wurde auf jeden Einzelnen übertragen, aber sie ist sehr abgeschwächt und wird selten wahrgenommen. Mehr Autorität besitzen die Plattformen-Betreiber, die Verfehlungen mit Exklusion bestrafen. Unsere Beziehungen und auch die Arbeit daran werden heute mehr durch die Plattformen als der Gesellschaft formalisiert und reguliert. Obwohl nur mehr immaterielle Austauschakte stattfinden, werden weiterhin symbolische und ökonomische Profite gewonnen.

Noch immer sind wir getrieben (soziales) Kapital zu akkumulieren und nutzen dafür Strategien. Wie zum Beispiel die Nutzung von Bots, die Personen Bedeutung und Aufmerksamkeit verleihen, indem sie Inhalte teilen. Als Werkzeuge können sie auch destruktiv und manipulativ genutzt werden. Sie können bewirken, dass jemand an Ansehen verliert oder sogar von einer Plattform ausgeschlossen wird, was den Verlust des sozialen Kapitals bedeutet. Die Existenz der social bots destabilisiert das System selbst. Denn welche Bedeutung hat eine community aus Maschinen, die kein eigenes Kapital besitzen? Um dem zu entgehen, muss die community sich als reale KapitalbesitzerInnen identifizieren – der letzte Schleier des sozialen Kapitals fällt.

Quelle:

Pierre Bourdieu: „Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital“ In: Soziale Ungleichheiten herausgegeben von Reinhard Kreckel, Göttingen: Schwartz, 1983, S. 183–98. (übersetzt vom Herausgeber)

Foto: Pierre Bourdieu (1996) von Bernard Lambert (via Twitter)

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