Der fremde und der eigene Blick auf Wien

Die Stadt ist in der Literatur und folglich auch in der Literaturwissenschaft kein Neuland mehr. Ihre Geschwindigkeit, Dichte, Zentriertheit hat sie zu einem Spiegel der kapitalistischen, schnelllebigen Gesellschaft und zu einem hervorragenden, literarischen Handlungsraum werden lassen. Charakteristisch für das urbane Leben ist vor allem die Nähe des Fremden und der Fremden. Walter Siebel fasst diese Situation prägnant zusammen:

Stadt ist der Ort, wo Fremde wohnen. Auf dem dorf gibt es keine Fremden. In der Stadt ist man überrascht, ein bekanntes Gesicht zu sehen, und je häufiger dies geschieht, desto eher beschleicht einen das Gefühl, in der Provinz zu leben, nicht eigentlich in einer Stadt. Auf dem Dorf dagegen dreht man den Kopf nach jedem Fremden, und sieht man zu viele, fürchtet man, seine Heimat zu verlieren. Ohne Fremde, und das heißt ohne Zuwanderung, gibt es keine großen Städte. [Walter Siebel. Die Stadt und die Fremden. In: Kursbuch Stadt. Stadtleben und Stadtkultur an der Jahrhundertwende. Hrg. v. S. Bollmann. Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt, 1999. S. 83]

Die zugewanderten Fremden sehen auch die Stadt, in der sie nun wohnen sollen, anders als deren Bewohner. Dieser fremde Blick zeichnet sich auch in der Literatur ab, die unter Namen wie Migrations-, Reise- oder Minderheitenliteratur bekannt ist. Die Xenologie hat in komparatischen Studien unter dem Titel der Imagologie schon große Beliebtheit gefunden. Doch in der vorliegenden Arbeit möchte ich die Fremdheit auf die Stadtliteratur konzentrieren und diese auf ihre spezifischen, literarischen Verfahrensweisen analysieren: Mit welchen literarischen Techniken und Stilmitteln wird diese Perspektive von Außen verwirklicht? Wirken sie sich auf das im Text konstruierte Stadtbild aus? Welche Funktionen üben sie textimmanent aus?

Der Außenperspektive stelle ich eine Stadtbetrachtung eines in der Stadt Beheimateten gegenüber und unterziehe diese der selben Analyse. Diese komplementären oder gegensätzlichen Betrachtungspositionen werde ich zuletzt noch vergleichen.

Im ersten Teil habe ich den Text It Must Be Somewhere gewählt, geschrieben von fünf englischsprachigen Autoren unter dem Namen Labyrinth, hinter dem sich die Association of English-Language Poets in Vienna verbirgt. Dem gegenüber steht im zweiten Teil relativ unbekannter und unrezensierter Text von Elfriede Gerstl grüssen, gehen, stehen. Die Autorin wählte ich als Repräsentantin für Wien, da sie mit Kommentaren wie „Die Gerstl bringt unprätentiös und sachlich, mit unaufdringlichem Humor, das Wiener Leben der Intellektuellenszene auf den Punkt“ oft versehen wurde. Außerdem möchte ich hiermit der erst vor Kurzem verstorbenen Poetin meine Achtung vor ihrem Werk erweisen. Im jeweils letzten Kapitel der beiden Teile werde ich auf deren Stiltechniken bezüglich des fremden oder eigenen Blicks eingehen.

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