Bourdieu: Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital

Pierre Bourdieu

Pierre Bourdieu veröffentlichte 1983 einen Aufsatz, in dem er sein Konzept des Kapitals erläutert. Hier fasse ich seine Thesen und Gedanken zusammen. Zuvor noch ein paar Worte zum Kontext: Der Text erschien im Sammelband Soziale Ungleichheiten, der das Ergebnis einer Konferenz über neue Ansätze in der Ungleichheitsforschung war. Der Herausgeber Reinhard Kreckel formulierte in seiner Einleitung die neuen Forschungsziele als Inklusion von (Rand)gruppen (Arbeitslose, Frauen, etc.), eine globale Perspektive, das Erweitern des Schichtenmodells und Bildung als “neue Dimension sozialer Ungleichheit” (S. 6). Der Beitrag erschien ein Jahr nach der Übersetzung Die feinen Unterschiede, Bourdieus ersten Hauptwerk, in welchem er sein Kapitalmodell bereits definierte und an der französischen Gesellschaft anwendete.

Bourdieus Kritik

Ausgehend von einer Kritik am Strukturalismus (“Aneinanderreihung von kurzlebigen und mechanischen Gleichgewichtszuständen” S. 183) sieht Bourdieu es als wichtig an, den Kapitalbegriff in der Soziologie wieder einzuführen und der Gesellschaft ihre Geschichtlichkeit zurückzugeben. Des Weiteren differenziert er sich von bisherigen Kapitalbegriffen:

  1. “Die Wirtschaftstheorie hat sich […] ihren Kapitalbegriff von einer ökonomischen Praxis aufzwingen lassen, die eine historische Erfindung des Kapitalismus ist.” (S. 184) Das ökonomische Kapital sei mit weiteren Kapitalformen zu ergänzen, die nicht auf “bloßen Warentausch, […] auf Profitmaximierung ausgerichtet” (ebd), reduziert sind.
  2. Aber auch von Theorien des Humankapitals, die “schulischen Erfolg oder Mißerfolg auf die Wirkung natürlicher ‚Fähigkeiten’” (S. 185) zurückführen. „‚Begabung‘ [ist] auch das Produkt einer Investition von Zeit und kulturellem Kapital” (ebd.). Dies “ignoriert den Beitrag, den das Erziehungssystem zur Reproduktion der Sozialstruktur leistet, indem es die Vererbung von kulturellem Kapital sanktioniert.” (S. 186)

Was ist Kapital nach Bourdieu?

Das Kapital wird definiert als “akkumulierte Arbeit, entweder in Form von Materie oder in verinnerlichter, ‚inkorporierter‘ Form.” (S. 183) Wenn auch nicht explizit erwähnt, bezieht letzteres sich vor allem auf den Habitus, der sozusagen performativer Ausdruck des Kapitalbesitzes ist, und sich in Sprache, Geschmack etc. äußert. “Die universelle Wertgrundlage, das Maß aller Äquivalenzen, ist dabei nichts anderes als die Arbeitszeit im weitesten Sinne des Wortes.” (S. 196) Kapital “kann ebenso Profite produzieren wie sich selbst reproduzieren oder auch wachsen.” (S. 183) Es ordnet die soziale Welt in “objektiven und subjektiven Strukturen” und sorgt dafür, “daß nicht alles gleich möglich oder gleich unmöglich ist.” (ebd.)

Ökonomisches Kapital

“Das ökonomische Kapital ist unmittelbar und direkt in Geld konvertierbar und eignet sich besonders zur Instituionalisierung in der Form des Eigentumsrechts”. (S. 185) Es ist das Dominanteste unserer Gesellschaft.

Kulturelles Kapital

Das kulturelle Kapital beschreibt Bildung im weitesten Sinne und existiert in drei Formen:

  1. in körpergebundenen Zustand: Dieses k.K. (z.B. Umgangsformen, Wissen, Kenntnisse oder die Aneignung von neuem k.K.) wird dauerhaft erworben. Es kann nicht übertragen werden, sondern benötigt einen Verinnerlichungsprozess. Die familiäre Erziehung, als eine mögliche Weitergabe, wirkt sich positiv oder negativ auf den weiteren Erwerb aus. Sie ist die am besten verschleierte Kapitalübergabe und wirkt sich bei Regulationen der direkten Vererbung besonders auf die Reproduktion der Macht aus. Durch die ungleiche Verteilung wirkt sich das Kapital unterschiedlich auf die “Aneignung von Profiten und zur Durchsetzung von Spielregeln, die für das Kapital und seine Reporduktion so günstig wie möglich sind,” (vgl. S. 186-7) aus.
  2. in objektivierten Zustand: Materielle Träger von k.K. (z.B. Bildern, Büchern oder Maschinen) lassen sich übertragen. Während deren Erwerb ökonomisches (oder soziales?) Kapital voraussetzt, können sie erst durch die körpergebundene Fähigkeit “genutzt” werden. Hier führt Bourdieu das mehrdeutige Beispiel der “Kaderkräfte” als Herrschende und Beherrschte an. Diese Form des k.K. kann/muss als “Waffe” in der Auseinandersetzung aktiviert werden. (vgl. S. 187-189)
  3. in institutionalisiertem Zustand: Bildungstitel sind eine Sonderform der 2. Form. Sie ermöglichen es, “die Besitzer derartiger Titel zu vergleichen und sogar auszutauschen, indem sie füreinander die Nachfolge antreten.” (S. 190) Sie garantieren die Umwandlung zwischen kulturellem und ökonomischen Kapital, welche vom Seltenheitswert abhängt und sich somit verändert.

Soziales Kapital

“Das Sozialkapital ist die Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens oder Anerkennens verbunden sind; oder, anders ausgedrückt, es handelt sich dabei um Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen.” (S. 190-1) Bourdieu umschreibt s.K. auch allgemeiner als Bekanntheit, wobei diese über die eigentlichen „Beziehungen“ hinausgehen kann. Das Sozialkapital des Einzelnen hänge von der Ausdehnung des Netzes, das er tatsächlich mobilisieren kann, und dem Kapitalvolumen der Vernetzten ab. Daraus ergeben sich materielle Profite und symbolische Profite. Diese Beziehungen beruhen auf und erhalten sich durch materiellen und/oder symbolischen Austausch, wodurch eine “weihevolle Atmosphäre” die Kapitalanhäufung verschleiert.

Das Gesamtkapital einer Gruppe ist Kreditwürdigkeit und wirkt sich als ein Multiplikator auf das tatsächlich verfügbare Kapital aus. Die Voraussetzung ist ein Minimum von „objektiver“ Ähnlichkeit. Neuzugänge bzw. jede Form der „Mésalliance“ bedrohen das s.K. der Gruppe. Zugangskriterien und institutionalisiertes s.K. (zB. Familienname, Schule, Partei) sollen hierbei über das Verhältnis des s.K. informieren bzw. dieses garantieren. „In allen Gruppen gibt es mehr oder weniger institutionalisierte Formen der Delegation[, also] einer Konzentration des gesamten Sozialkapitals auf einzelne oder wenige Personen. Der […] Bevollmächtigte wird beauftragt, die Gruppe zu vertreten […] und so, aufgrund des allen gehörenden Kapitals, eine Macht auszuüben, die in keinem Verhältnis zu seinem persönlichen Gewicht steht.“ (S. 193) Individuelle Verfehlungen werden z.B. durch Ausschließung begrenzt.

Umwandlung zwischen Kapitalformen

Durch soziales und kulturelles Kapital werden Hierarchien der ökonomischen Kapitalverteilungen oder der “’kalte Hauch‘ des egoistischen Kalküls” (S. 184) in umgekehrten Ökonomien (z.B. Kunst) verschleiert. Diese Verschleierung oder Euphemisierung erfordert einen erheblichen Aufwand.

Die Grundlage des Kapitaltransfers oder Wechselkurses ist Arbeitszeit, wobei Bourdieu Arbeit im weitesten Sinne des Wortes meint: Beispielshaft stehe der verzögerte Wiedereintritt der Mutter in den Arbeitsmarkt für die familiäre Weitergabe des Kulturkapitals.

Auch wenn der Erwerb von sozialen oder kulturellen Kapital nicht ökonomischen Prinzipien folgt oder diese verschleiert werden, können “[d]ie anderen Kapitalarten […] mit Hilfe von ökonomischen Kapital erworben [und auch wieder zurückgeführt] werden, aber nur um den Preis eines […] Aufwandes an Transformationsarbeit.” (S. 195) Zum Beispiel Beziehungen können nur asynchron und verschleiert eingesetzt werden, “wenn sie bereits seit langem etabliert und lebendig gehalten worden sind, als seien sie ein Selbstzweck.” Verschleierung des Ökonomischen erhöht jedoch das Risiko des Schwundes, insbesondere bei einem Generationenwechsel. Da Kapitalarten konvertierbar sind, ergeben sich “Strategien, die die Reproduktion des Kapitals (und der Position im sozialen Raum) mit Hilfe möglichst geringer Kapitalumwandlungskosten (Umwandlungsarbeit und inhärente Umwandlungsverluste) erreichen möchten”. (S. 197) “Jede Reproduktionsstrategie ist […] auch eine Legitimationsstrategie, die darauf abzielt, sowohl die exklusive Aneignung wie auch ihre Reproduktion sakrosankt zu machen.” (S. 198)

Quelle

Pierre Bourdieu: „Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital“ In: Soziale Ungleichheiten herausgegeben von Reinhard Kreckel, Göttingen: Schwartz, 1983, S. 183–98. (übersetzt vom Herausgeber)

Foto: Pierre Bourdieu (1996) von Bernard Lambert (via Wikipedia)

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